Pariser Geschichten:
"Bohème oder von Menschen und Mäusen"
[...] Paris. Viele Menschen, viele Cafés, viele Hunde, viele Autos, viele Bettler, viel Métro, viele Luxusappartments und wenig Wohnraum, viel Arm, viel Reich, viel Multikulti….
Paris. Eine Stadt wie jede andere und keine Stadt wie jede andere. Jeder hat seine eigenen Bilder von Paris. Meine spiegeln sich in kleinen, ganz persönlichen Geschichten, in Erlebnissen, abseits vom Touristenparis. Kein Bilderbuchparis, kein romantisches „Woody Allen-Midnight-in-Paris“ Paris. Da gab es Vieles, was für mich schwer zu verdauen war: die zunehmende Hektik in der Stadt, die katastrophale Wohnsituation, die langen Wege, die ich täglich im unterirdischen Dschungel der Métro zurücklegen musste, um in die diversen Pilates-, Yoga- und Tanzstudios zu gelangen, in denen ich unterrichtete, die Mäuse, die mir das Leben schwer machten … das alles und einiges mehr, hatte mich letztlich dazu bewogen, die Stadt meiner Träume nach fast fünfzehn Jahren zu verlassen, und doch – jetzt, wo ich meine Zelte in Paris abgebrochen habe, jetzt, wo ich nur noch ab und zu besuchsweise durch die vertrauten Viertel und Straßen gehe, jetzt habe ich oft Heimweh nach Paris …
Was geblieben ist, sind viele Erinnerungen und ein paar Texte, die ich zwischen 2009 und 2014 schrieb, entstanden aus spontanen Skizzen und Tagebucheintragungen über Erlebnisse, die mich berührten, erheiterten oder auch schockierten, kurz: Impressionen meines Pariser Alltags. [...]
Aus Nizzageschichten: "Casino"
Die Madame sagt, ich nehme Sie mal mit ins Casino, ich sage, ja, warum nicht, ich war noch nie in einem Spielcasino, und so gehen wir an einem Samstagnachmittag los. Entlang der Promenade des Anglais, rechterhand das blauglitzernde Bilderbuchmeer, denn ich bin in Nizza, seit einigen Monaten. Am Casino war ich schon oft vorbeigegangen, ich war neugierig. Es befindet sich im Palais de la Méditerranée mit seiner imposanten Front, das Casino dahinter habe ich mir allerdings anders vorgestellt. Las Vegas in Miniatur. Ich sehe nur endlose Reihen von Apparaten mit buntem Gekringel und Gekräuse und Geläute und Geschnarre, bunte Bildchen, die kommen und gehen, alles verwirrend schnell und die Menschen sitzen vor den Geräten und betätigen einen Knopf oder mehrere und starren wie gebannt und starren doch ins Leere oder wer weiß wohin.
Was soll ich hier? Ich bin jetzt schon erschöpft. Und die Geräte, die herunterziehende Sucht-Energie erschöpfen mich noch mehr.
Die Madame sagt, sie sei nie glücklich gewesen, nur in ihrer Jugend, da sei sie viel ausgegangen, eine Schönheit sei sie gewesen, viel umworben, aber dann, sagt sie, le mariage, c´était nul et après j´ai rencontré que des salauds … die Ehe ein Reinfall und die Männer danach auch, alles Spieler. Ihre Sehnsucht nach Mehr.
Am Tag vor unserem Casinobesuch ist sie zweiundachtzig Jahre alt geworden. Sie ist eine beeindruckende Frau, gutaussehend, kultiviert, mit extravagantem Kleidungsstil. Groß ist sie, das fällt auf in Frankreich.
Sie wirkt bedrückt, was ist los, frage ich, war Ihr Geburtstag nicht schön, was haben Sie gemacht? Ich war etwas enttäuscht, dass sie mir nichts gesagt hatte und dachte, sie habe vielleicht nur ihre Familie einladen wollen und nicht mich … aber nein, so war es nicht. Ich habe mir selber etwas geschenkt, sagt sie, ich war gestern im Casino. Alleine. Bis drei Uhr nachts habe sie gespielt und die zweihundertfünfzig Euro, die sie gewonnen hatte, wieder verloren. Ich bin schockiert, wie sind Sie nachhause gekommen, frage ich, immerhin ist sie nicht mehr die Jüngste und hat oft gesundheitliche Probleme.
Ich bin zu Fuß gegangen „en titubant“, leicht schwankend, sagt sie, so, als sei das völlig normal. Und heute ist sie schon wieder im Casino, und heute der „Kater“, wie nach zu viel Alkohol, wie nach jedem Rausch. Da vergisst man alles, sagt sie, das ist so ein wahnsinniges Glücksgefühl, die Endorphine, wissen Sie, dieser Stoff im Gehirn, der macht das. Ja, und heute sind sie nicht mehr da, die Endorphine, und sie wirkt deprimiert und bedrückt. Ich mag sie sehr, die Madame, sie wirkt nicht wie eine alte Frau, für mich ist sie eine fast gleichaltrige Freundin.
Wir laufen etwas herum, sie zeigt mir die Geräte, die interessieren mich überhaupt nicht, lediglich das Roulette. Es gibt zwar mittlerweile eine Art Roulettemaschine, die die Spieler selber betätigen, aber im Hintergrund des großen Saales sehe ich auch noch die Roulettetische, so wie man sie aus alten Filmen kennt: der Spieltisch der Reichen und Schönen und die Kugel rollt und bestimmt ihr Schicksal. Das hat noch etwas, diese rollende Kugel und der Croupier, der seine Ansage macht „faites vos jeux“ und dann die Spannung, die immer langsamer rollende Kugel, wo wird sie liegenbleiben, werde ich Glück haben oder Pech, meint es das Schicksal gut mit mir oder nicht, wie verläuft mein Leben, ist alles nur Zufall oder steht dahinter ein Gesetz … c´est la vie. So ist es.
Tagsüber sind die Roulettetische nicht besetzt, nur abends und offenbar bis in den frühen Morgen wird dort gespielt. Ich bekomme also nur einen Eindruck vom Gerätecasino und das hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Draußen scheint die Sonne, strahlend blauer Nizzahimmel und das azurfarbene Meer vor der Tür. Hier dagegen ist es dämmerig, stickig, Unterwelt.
Die Madame spielt hauptsächlich an den Geräten. Früher habe sie auch Roulette gespielt, erzählt sie, alles habe sie gespielt. Heute habe sie ja die Spielsucht im Griff und gehe nur zu besonderen Gelegenheiten, so wie an ihrem Geburtstag, ins Casino. Ob das allerdings die ganze Wahrheit ist, bezweifle ich. Ich hatte mir bisher keine Sorgen um sie gemacht, aber nun, vielleicht sollte ich doch?
Wird da nicht manchmal geschummelt, frage ich, mit Blick auf die Roulettetische, gibt es keine Möglichkeit für die Croupiers, das Ergebnis zu manipulieren? Nein, sagt sie, das geht nicht, die Kugel rollt dahin, wohin sie rollen will. Aber einmal, fährt sie fort, ich war noch jung und täglich im Casino, die Croupiers kannten mich natürlich …
… und dann erzählt sie mir die haarsträubende Geschichte, wie einer von ihnen, den sie offenbar sehr beeindruckt hatte, das Spiel zu ihren Gunsten gedreht hatte, für sie, die schöne, junge Frau, nicht eine von den Reichen, das wusste er sicher, und vielleicht hoffte er, sie für sich zu gewinnen, jedenfalls, die Kugel rollte und rollte und blieb stehen und der Croupier schaufelte ihr den Gewinn zu, gagné! Die Madame war sprachlos, denn sie hatte gar nicht gesetzt, dagegen eine sehr betagte distinguierte Dame, die lautstark protestierte, das ist meine Nummer, mein Gewinn! Um einen Skandal zu vermeiden, sagt Madame T., konnte ich natürlich nicht die Wahrheit sagen, ich hätte den Croupier total kompromittiert. Also akzeptierte ich den Gewinn. Wer konnte schon beweisen, dass nicht ich sondern die alte Dame die Kugel gesetzt hatte. Jeder war doch mit sich beschäftigt, da, an diesem Schichsalsspieltisch.
Wir sitzen auf hohen Barhockern an einem ebenso hohen runden kleinen Tisch, trinken Espresso und essen ein Stück Kuchen. Genau um sechzehn Uhr gibt es dieses kleine Gratis „gôuter“ für die Spieler. Madame T. hatte vorgeschlagen, wir sollten, bevor wir uns bedienten, zumindest so tun als ob wir spielten, aber wir hatten es dann doch nicht getan. Und keinen schien es zu stören.
Da sitzen wir also und sie erzählt. Von ihrem Leben, ihrer Spielsucht. Ihrem Spielerleben. Sehen Sie den Herrn da mit den weißen Haaren? fragt sie und zeigt auf einen elegant wirkenden älteren Herrn an einem der Geräte. Er fällt auf. Denn die breite Masse der Spieler besteht aus einfacherem Publikum, Menschen, denen man den grauen Alltag ansieht, denen man ansieht, dass sie kein Märchenleben führen, sondern eben hierher fliehen, in der Hoffnung, sich eines Tages das Märchen, von dem sie träumen, verwirklichen zu können. Was nicht heißt, dass dieser aristokratisch wirkende Herr nicht auch vom großen Glück träumt, denn, so erzählt Madame T., der ist schon vierzig Jahre hier, ja, seit vierzig Jahren sieht sie ihn und sieht ihn älter werden und spielen und immer weiterspielen und sein Glück suchen, so wie sie es tut und all die anderen auch. Verrückt, denke ich, vierzig Jahre Casino, das ist eine lange Zeit, vierzig Jahre dasselbe Gesicht, und man kennt sich doch nur vom Sehen.
Einmal, erzählt Madame T., hat er meine Schwester angesprochen. Die Schwester, zwei Jahre älter als sie, sei nach wie vor wirklich spielsüchtig, also nicht so wie sie, die Madame, die zwar das Spielen nach wie vor „im Blut“ habe, das verliere man nie, meint sie, aber zum Glück habe sie es ja unter Kontrolle. Damals also war die Schwester noch eine junge Frau. Sie hatte eine Glückssträhne beim Roulette gehabt und ging nun mit viel Geld in der Tasche nachhause. Und der distinguierte Herr, damals natürlich auch noch jung, sprach sie an, ob er sie begleiten dürfe. Nun gut, er durfte. Erst kurz vor ihrer Haustür ließ er die Maske des Charmeurs fallen und fragte, ob sie ihm wohl etwas Geld leihen könne? Die Schwester fiel aus allen Wolken.
Casino. Nizza, Monte Carlo und andere. Die Madame kennt sie alle. Ihr Leben lang hat sie gespielt. Und sie kann es auch jetzt nicht lassen. Nach dem Espresso und unserem Barhockergespräch steuert sie zielstrebig auf eines der Geräte zu. Sie hat ihre Lieblingsmaschinen und bevorzugte Plätze. Sie will mir nur mal zeigen, wie das geht. Ich habe kein Interesse, aber sie ist schon ganz im Bann des Spiels und überhört meinen Einwand. So stehe ich also neben ihr. Sie erklärt mir die Spielregeln, aber ich bin unruhig und finde das alles eher langweilig, was sie, schon in einer anderen Welt, nicht bemerkt.
Haben Sie gesehen, das war ein Bonus! Jetzt habe ich ein freies Spiel gewonnen! und sie freut sich und wird immer aufgeregter. Ich kann es gar nicht fassen, es geht auf, ab, mal gewinnt sie etwas, dann verliert sie es wieder. Sie hatte zehn Euro gesetzt. Schließlich bleibt ihr nichts mehr übrig. Sie hat alles verloren. Widerstrebend steht sie auf und wir gehen zum Ausgang. Ich weiß, wenn sie alleine gewesen wäre, hätte sie weitergespielt und dann nicht nur mit einem Einsatz von zehn Euro.
Sie besorgt mir noch eine Karte fürs Casino, dann hätte ich freien Eintritt, das heißt, müsse nicht meinen Personalausweis zeigen (manche Spieler haben Einlassverbot, zu ihrem eigenen Schutz), und bekäme auch Einladungen für Events, Soirées mit Aperitif und Ähnlichem.
Ich bin nicht besonders interessiert, will aber ihr gutgemeintes Angebot auch nicht ausschlagen. Die Rezeptionistin, die meine Daten aufnimmt, fragt: Machines ou tables? Geräte oder Spieltisch? Was spielen Sie bevorzugt? Ich bin etwas ratlos und sage dann: Tisch, mit leichter Verzögerung, ich, die Nichtspielerin. Aber es stimmt schon, wenn ich wählen sollte, dann würde ich Roulette spielen, die Geräte kommen mir vor wie „Teufelswerk“. Aber das täuscht, hier ist alles Hölle, nicht umsonst der Ausdruck „Spielhölle“.
Ein Inferno für die, die hier gefangen sind. Es ist zu spüren, unangenehm lastend und schwer liegt es mir auf der Seele und ich bin froh, als wir endlich draußen sind. Ich bestehe darauf, einen kleinen Spaziergang am Meer zu machen, ich brauche frische Luft und Licht. Denn Madame T. steuert schon auf das nebenan gelegene zweite Casino zu. Zum Glück halten wir uns hier nicht lange auf. Die Madame ist heute müde. Kein Wunder. Ich begleite sie bis vor ihre Haustür. Sie sei nie glücklich gewesen, nur als sehr junges Mädchen, hatte sie gesagt. War das vor ihrer Spielsucht? Ich habe sie nicht gefragt. Und warum sie mit dem Spielen begonnen hatte? Sie hat mir ja selber den Schlüsselsatz gegeben: man vergisst alle Sorgen, man denkt an gar nichts mehr, gestillte Sehnsucht, es ist wie das Paradies.
Das Paradies in der Hölle, denke ich, sage es aber nicht. Sie weiß es.
Nachtrag 2016
Der oben beschriebene Casinobesuch fand im Februar 2015 statt.
Ein Jahr danach war ich in eine andere Stadt gezogen, hatte aber nach wie vor Kontakt mit Madame T. Von daher wusste ich, dass sie weiterhin regelmäßig ins Casino ging.
So auch am 14. Juli 2016, am französischen Nationalfeiertag. An diesem bedeutenden Feiertag ist die Promenade des Anglais dicht bevölkert, mehr noch als an Wochenenden oder anderen Festtagen. Aber das interessierte die Madame nicht. Sie saß vor ihrem Spieltisch, wie immer vertieft und im Bann der Schicksalszahlen, die über Haben oder Nichthaben entscheiden.
Plötzlich, so erzählt sie mir später, seien Menschen in die Halle gestürmt. Sie habe das anfangs nicht beachtet, aber schließlich sei nicht mehr zu übersehen gewesen, dass hier etwas Beunruhigendes geschah. Die Leute seien unter die Tische gekrochen, hätten sich versteckt, wo immer sie konnten und sie, in ihrer Verwirrung, habe ebenfalls ihr Spiel aufgegeben und sich unter einen Tisch gekauert, atemlos der Dinge harrend. Denn, was da los war, wusste niemand, keiner sagte es ihr. Allgemeine Verwirrung und Panik um sie herum. Geistesgegenwärtig - trotz der offensichtlichen Ausnahmesituation - habe sie in ihrer Handtasche gekramt und ein paar ihrer Tranquilizer geschluckt. Danach sei es ihr besser gegangen.
Ja, und dann? Frage ich.
Na ja, meint sie, ich habe eine ganze Weile unter dem Tisch gewartet und nachdem nichts weiter geschehen ist, bin ich wieder herausgekrochen und habe weitergespielt, so wie die anderen auch. Ich bin fassungslos.
Hatten Sie denn inzwischen erfahren, was passiert war?
Nein, hatte sie nicht. Offenbar vermutete man irgendein Attentat, aber Genaueres wusste sie zu dem Zeitpunkt nicht. Jedenfalls, alle Türen wurden geschlossen und niemand konnte mehr heraus, niemand herein. Viele Stunden sei sie eingeschlossen gewesen. Sie hat sie nicht gezählt, sie hat gespielt.
Was sollte ich denn sonst machen? sagt sie und ich gebe ihr Recht, was sollte sie sonst machen … sie tat das, was sie immer im Casino machte, sie spielte, nichtsahnend, dass ein paar Meter weiter, vor der Tür des Casinos, auf der Promenade des Anglais, sich eines der größten Dramen Frankreichs abspielte.
Als die Madame endlich das Casino verlassen durfte, war die Promenade noch übersät von Leichen. Der Wahnsinnige, der mit seinem Riesen-LKW die Menschenmenge entlang der Promenade durchschnitten und niedergewälzt hatte, war tot.
Nie mehr wird die Promenade des Anglais das sein, was sie einmal war, sagt Madame T.
Ja, denke ich, nichts ist wie vorher, aber die Kugel rollt wie eh und je, das Spiel geht weiter, la vie continue …